Wahlverwandtschaft: Der digitale Zwilling als Simulationsmodell in Echtzeit im Maschinen- und Anlagenbau

Dr. Georg Wünsch, Gründer von machineering Gmbh & Co. KG

 

Im Zuge von Industrie 4.0 müssen neue komplexere Produkte immer schneller auf den Markt gebracht werden. Doch trotz der steigenden Individualisierung darf die Produktion nicht mehr an Zeit, Energie und Ressourcen verbrauchen als bisher. Daher werden alle Innovationen rund um die Digitalisierung auch immer dahingehend überprüft, inwiefern sie einen Beitrag zu mehr Effizienz leisten – angefangen bei der Produktionsplanung und am Engineering bis hin zu Inbetriebnahme, Betrieb, Service und Modernisierung von Systemen und Anlagen. Genau an diesem Punkt setzt das Konzept des digitalen Zwillings an: Der digitale Zwilling, das virtuelle Abbild einer spezifischen Anlage, wird sein physisches Pendant ein Leben lang begleiten.

Für den digitalen Zwilling einer Anlage wird diese digitalisiert– idealerweise in Form eines Simulationsmodells – und mit realen Daten versorgt. Damit spiegelt das Modell jederzeit den aktuellen Anlagenzustand wider und liefert darüber hinaus wertvolle Informationen. Der digitale Zwilling wird schon bald jede Maschine von der ersten Idee bis hin zur Modernisierung begleiten. Nur so kann der Maschinenbau das Potenzial der Digitalisierung für mehr Effizienz und Qualität nutzen.

Sicherung eines störungsfreien Betriebs

Mit dem digitalen Zwilling im Schaltschrank steht dem Betreiber einer Anlage zu jedem Zeitpunkt ein virtuelles Abbild seiner realen Anlage zur Verfügung. Dieses auf Echtzeitdaten basierende Modell macht die Überwachung einer jeden Anlage – unabhängig von Standort oder Größe – unkompliziert möglich. Störungen oder Unregelmäßigkeiten im Ablauf können so unmittelbar behoben und der reibungslose Materialfluss oder auch Fertigungsablauf gesichert werden. Mithilfe des digitalen Zwillings können alle Möglichkeiten wie Maschinenausfall, Stau oder Gedränge am Modell getestet werden. So lassen sich später Stillstandzeiten an der realen Maschine auf ein Minimum reduzieren.

Doch nicht nur die Überwachung einer realen Anlage wird durch den digitalen Zwilling erleichtert. Vor allem bei den Themen Support und Wartung ist der digitale Zwilling ein echter Gewinn. Denn es besteht die Möglichkeit, Wartungsmaßnahmen auf den tatsächlichen Zustand der Anlage abzustimmen und statt einer vorbeugenden, präventiven Wartung auf eine zustandsorientierte, prädiktive Wartung umzustellen. Darüber hinaus lassen sich besser auf das Einsatzszenario abgestimmte Betriebsparameter ermitteln, um die Anlage optimal zu betreiben und diese Kenntnisse an die Produktentwicklung zurückführen.

Anlagenplanung mit digitaler Simulation

Auch wenn der digitale Zwilling seine eigentliche Aufgabe erst in Kombination mit einer realen Maschine aufnimmt, sollte dieser bereits mit Beginn der Planung „geboren“ werden. So können beispielsweise mit der ersten Idee der späteren Maschine alle generierten CAD-Daten bidirektional mithilfe einer Schnittstelle von dem CAD-System in die Simulationssoftware industrialPhysics übertragen werden. Auf diese Weise stehen Änderungen am simulierten Modell unmittelbar auch im CAD-System zur Verfügung. Damit entfällt auch das redundante Ändern des Modells und alle Mitglieder des mechatronischen Teams können jederzeit auf die aktuellste Version als Arbeitsgrundlage zurückgreifen. Mithilfe der Vielzahl der angebundenen Systeme und Steuerungen an die Simulationssoftware ist es für den Ingenieur schnell möglich, den digitalen Zwilling der geplanten Maschine zu generieren.

Voraussetzung für die technische Umsetzung eines digitalen Zwillings ist jedoch die zuverlässige Verbindung des physischen Produktes mit der Simulation und eine geeignete Simulationstechnologie, die auf Echtzeitdaten zurückgreift und eine extrem hohe Datentaktung hat. Ist diese Grundbedingung erfüllt, können die Bedingungen der realen Inbetriebnahme einer Anlage durch die vorherige virtuelle Inbetriebnahme einfach geprüft und verbessert werden.

Exakte Darstellung von Produktionsprozessen

In einer von machineering durchgeführten Feldstudie ergaben sich folgende Wettbewerbsvorteile für Unternehmen, wenn ein digitaler Zwilling zum Einsatz kommt [1]:

  • Verkürzung der Zeit für die Inbetriebnahme um bis zu 75 Prozent
  • Verringerung der Gesamtdurchlaufzeit um ca. 15 Prozent
  • Steigerung der Softwarequalität um mehr als 40 Prozent
  • Deutliche Senkung der Kosten

Durch die Simulationssoftware werden Planungs-, Realisierungs- und Ablaufprozesse exakt dargestellt. Vor allem in der Entwicklungsphase ermöglicht die Simulationssoftware als Plattform einen schnellen Informationsaustausch und eine effektive Kommunikation innerhalb des mechatronischen Teams. Darüber hinaus können mögliche Veränderungen an den Abläufen des Unternehmens getestet und die Auswirkungen in der virtuellen Welt genauestens analysiert werden, ohne Veränderungen an der realen Maschine vornehmen zu müssen. Arbeitsgeschwindigkeiten, Maschinentaktzeiten und Materialflüsse lassen sich so einfach und schnell visualisieren und optimieren.

Prinzip der kontinuierlichen Inbetriebnahme

Anwender profitieren nicht nur im Produktionsprozess von den deutlich vereinfachten Abläufen durch den Einsatz von Simulationssoftware. So setzt auch machineering schon länger auf einen ganzheitlichen Engineering-Ansatz. Dabei übernimmt der digitale Zwilling eine komplett neue Rolle in der Anlagenentwicklung, die weit über eine reine Überprüfungsfunktion hinausgeht. Die Simulation steht dabei als eine bereichsübergreifende Plattform zur Verfügung, auf der zu jedem Zeitpunkt der aktuelle Entwicklungsstand verifiziert und auf Realisierbarkeit mit weiteren Bereichen überprüft wird. Über Tests in einem Simulationsmodell, welches das Verhalten des Systems realistisch abbildet, ist dabei stets eine sofortige Rückkopplung gewährleistet – und zwar ohne langwieriges Speichern, Umformatieren und Laden von Datenmodellen.

Die Fachbereiche Mechanik, Elektrik und Software greifen dabei zeitgleich auf dieselben Modelle zurück, die sie jeweils in ihrer nativen Entwicklungsumgebung bearbeiten, gemeinsam weiterentwickeln und mittels der Simulation sofort im Zusammenspiel testen. So wird der aktuelle Entwicklungsstand in der Mechatronik-Entwicklung bereits in den frühesten Phasen des Entwicklungsprozesses interdisziplinär getestet. Durch diese kontinuierliche Inbetriebnahme lässt sich letztlich der Aufwand gegenüber der üblicherweise finalen Inbetriebnahme deutlich reduzieren – sowohl zeitlich als auch kostentechnisch. Denn durch den permanenten Abgleich des Arbeitsstandes werden jederzeit Machbarkeit und Erreichbarkeit der Ziele überprüft.

„Praxistest“ für Steuerungssoftware

Einer der führenden Verpackungsmaschinenhersteller hat die digitale Transformation vollzogen – seit mehr als drei Jahren arbeitet das Unternehmen nun mit einer Simulationssoftware. Dabei kommt die Software hauptsächlich in der Entwicklung zum Test der Steuerungssoftware der Maschinen zum Einsatz, aber auch bei der Evaluierung von Produktverhalten bei verschiedenen Konstruktionen sowie der Auslegung von Maschinen.

Der digitale Zwilling hilft dabei, Rückschlüsse auf die Ausbringungsmenge zu ziehen. Durch den Einsatz der Software können nun die Arbeiten parallel ablaufen (Simultaneous Engineering), was sowohl Kosten als auch die reale Inbetriebnahmezeit reduziert. Der größte Benefit ist der HIL-Softwaretest an der virtuellen Maschine inklusive der Simulation des Produkttransports. So können frühzeitig Tests an der Steuerungssoftware vorgenommen und direkt bei Bedarf reagiert werden.

Offensive für VR & AR

Ein nächster Entwicklungsschritt geht in Richtung VR und AR: Anwendern steht – wie bei industrialPhysics – nicht allein das exakte Modell der realen Maschine als digitaler Zwilling zur Verfügung. Mit der Anbindung von VR-/AR-Brillen taucht der Anwender noch tiefer in die simulierte Anlage ein – in die Maschine in der virtuellen Realität.

Ob sich ein Anwender für VR- oder die AR-Technologie entscheidet, hängt von der persönlichen Präferenz ab. Drei verschiedene VR-/AR-Brillen sind derzeit an die Software angebunden: Die ersten beiden Modelle, die HTC Vive wie auch die Oculus Rift, basieren auf einem Virtual Reality (VR)-System mit einem Head-Mounted-Display. Durch die Brille ist der Anwender komplett von der Außenwelt abgeschnitten und bewegt sich frei im virtuellen Raum, beispielsweise in einer Produktionshalle im laufenden Betrieb. Das dritte Modell, die Microsoft HoloLens ist ein Augmented Reality (AR-) System, also die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung, durch das der Benutzer mit der Unterstützung durch ein Natural User Interface interaktive 3D-Projektionen in der direkten Umgebung darstellen kann. Der Nutzer blickt durch transparente Bildschirme, durch die die Projektionen dann direkt zu sehen sind.

Resumé

Der Einsatz des digitalen Zwillings ist der große Schritt in Richtung Industrie 4.0, den jedes Unternehmen gehen muss. Zukünftig wird jeder Hersteller genau wissen, welche Komponente mit welchen Merkmalen in welchem seiner Produkte wie verbaut worden ist – und kann so zielgerichtet auf Probleme reagieren und Prozesse optimieren.

Mit dem digitalen Zwilling steht somit eine perfekte virtuelle Abbildung der (geplanten) Maschine zur Verfügung. Der Hersteller bietet so mehr Effizienz in der Entwicklung, der virtuellen Inbetriebnahme, der Fertigung und beim Service – auch im After Sales.

www.machineering.de

Gegründet wurde die machineering GmbH & Co.KG als Spin-off aus dem Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften an der TU München. Seit 2009 entwickelt das Münchner Unternehmen innovative Softwarelösungen für die Echtzeit-Materialfluss- und Robotersimulation. Das Expertenteam rund um Dr. Georg Wünsch berät Unternehmen zu Themen wie Visualisierung und Simulation.

Gegenüberstellung reale Verpackungsanlage und digitaler Zwilling (© Somic Verpackungsmaschinen GmbH & Co. KG)

Referenzen

[1]              Wünsch, Georg: Methoden für die virtuelle Inbetriebnahme automatisierter Produktionssysteme, UTZ Verlag, 2008