Selten lag so viel Innovation in der Luft. Kaum jemals fühlte man sich derart umzingelt von aktuellen und kommenden großartigen Erfolgen. Historische Parallelen gibt es: die Jahrhundertwende war ein Zeitraum grandioser technologischer Durchbrüche, die Jahrtausendwende war eine Episode sich überschlagender Online-Euphorie mit Geschäftsmodellen, die dann allerdings rasch kollabierten.
Reinhard Karger, Unternehmenssprecher, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, DFKI und Präsident, Deutsche Gesellschaft für Information und Wissen, DGI
In der Retrospektive war die DotCom-Blase die beginnende Pubertät – die Ankündigungen vollmundig, die Erfahrung gering. Aktuell sind wir eher in der Adoleszenz angekommen: das Business ist stark und entwickelt, nur die mentale Reife ist noch nicht voll ausgebildet, Urteile sind nicht wirklich reflektiert – aber der auf sich selbst gerichtete Genieverdacht ist mächtig! Die Kultur des Scheiterns wird gefeiert, so lange keine Fehler passieren. Ob Schwarm oder Sharing, Social oder Cloud. Der Grad der Silicon Valley Hyperventilation und der bedingungslosen Gründungseuphorie steht im Zenit. Die kalifornischen Marketingartisten können hochzufrieden mit sich sein. Europa schaut wie paralysiert zur West Coast und verharrt, hysterisch wartend auf die nächste Disruption. Die Stimmung erinnert an den PISA-Schock 2001 und die Erneuerung des Bildungssystems – primär mit Erkundungsreisen nach Finnland.
Ingenieurskultur braucht Digitalisierungs-Spirit
Was sollte der Mittelstand tun? Besser sein Umfeld erkunden, als nach Kalifornien pilgern. Die Angebote vor der eigenen Haustür sind erstaunlich zahlreich und haben eine erstaunliche Qualität, strategisch und praktisch, verbal und haptisch. Augen auf, Maß nehmen und nachdenken, wie man die Digitalisierungsdividende konkret in seinem Unternehmen realisieren kann. Und es stimmt: Ingenieurskultur braucht Digitalisierungs-Spirit! Beispiel Wetropa: der Verpackungsspezialist hat die Kosten der Angebotserstellung externalisiert. Die Kunden können jetzt ihre individuelle Schaumstoffeinlage per App selber entwerfen, die Kosten sind gesunken, die Rückläufer seltener, die Kunden sind zufriedener, der Prozess ist schlanker. Es gibt in fast allen Bundesländern Kompetenzzentren für Industrie 4.0 und Veranstaltungsreihen zum smarten Mittelstand – und die meisten Veranstaltungen sind kostenfrei. Digitalisierung ist eine Chance, vor der niemand kapitulieren muss. Digitalisierung heißt nicht primär Disruption, sondern: mitmachen, clever sein, profitieren!
Disruption ist im Rückspiegel interessant, in der Gegenwart meist problematisch und in der Vorausschau raumgreifend spekulativ. Deshalb sind die Prognosen auch so wortreich. Leichtfertig werden Giganten abgeschrieben und Newcomer gehypt. Eine Zeitlang wollte die Presse den absehbar unabwendbaren Untergang von Daimler feststellen, bis der tragische Unfall eines Tesla–Fahrers die Diskussion um die Autopilot genannte Assistenzfunktion und selbstfahrende Autos gleichzeitig intensiviert und abgekühlt hat. Plötzlich sind wieder Preismodelle und Probleme bzw. Teslas mangelnde Erfahrung bei der Großserienproduktion im medialen Fokus und aktuell entbrennt eine neue Diskussion um die Entflammbarkeit der verbauten Akkus.
„Diesmal geht es um Künstliche Intelligenz“
Diesmal ist manches vergleichbar mit den 2000ern, aber vieles ist anders. Die Geschäftsmodelle funktionieren nicht nur in der Ankündigung, sondern auch in der Bilanz. Die Firmen wachsen nicht über Risikokapital, sondern durch Kunden, Umsatz und Gewinn und manche zahlen eine Dividende an ihre Aktionäre. Diesmal ist es nicht die Vernetzung, das Web 2.0, sind es nicht Smartphones und das mobile Internet, die das Leben grundsätzlich verändert haben.
Diesmal geht es um Künstliche Intelligenz. Die Rezeptionsgeschichte der KI ist wellenförmig. Künstliche Intelligenz wird entweder grotesk unterschätzt oder grandios überbewertet. Aktuell befinden wir uns eher auf der gehypten Seite der Medaille. Vielleicht sogar verständlich. Nach Schach und dem Erfolg von Deep Blue gegen den amtierenden Weltmeister Garry Kasparov 1997, nach Jeopardy und IBM Watson 2011, nun Go und die Niederlage von Lee Se Dol gegen Alphago von Google Deepmind im März 2016. Und in der Tat sind die Erfolge atemberaubend.
KI ist nun Arzt und Apotheker, Therapeut und Orakel. Algorithmen sind die neuen Medikamente, Daten das neue Öl und Öl das Gold von gestern. KI ist in der Tat wichtig für Industrie 4.0, die Zukunft der Produktion und verwandte Themen, die seit 2011 immer das Suffix „4.0“ tragen – das für den Impact der 4. Industriellen Revolution steht.
Von der Wissenschaft zum Prototypen
Für die Künstliche-Intelligenz-Forschung ist 2016 ein Jubiläumsjahr; es markiert den 60. Jahrestag der Dartmouth Konferenz, bei der im Juli 1956 in Hanover im US-Staat New Hampshire der Begriff „Artificial Intelligence“ geprägt wurde. Natürlich war KI ein Kind des Kalten Kriegs und die maschinelle Übersetzung aus dem Russischen das vordringliche Ziel der staatlichen Investitionsprogramme. Aber das wissenschaftliche Ziel war weiter gefasst, es ging um intelligente Maschinen oder präziser um die digitale Simulation menschlicher Wissensfähigkeiten.
Wie sieht es aktuell aus? Die exponentielle Leistungssteigerung der Hardware, der Preisverfall bei Sensorik, die Überwindung des Medienbruchs durch Digitalisierung, die Erfolge bei der konkreten Anwendung von maschinellen Lernverfahren und neuronalen Netzen, die – fast – flächendeckende breitbandige Vernetzung haben in der Kombination mittlerweile Systeme ermöglicht, die die ursprünglichen Ziele der KI in erreichbare Nähe rücken: Spracherkennung, maschinelle Übersetzung, robotische Assistenten, autonome Systeme, die in toxischen Umgebungen, auf dem Meeresboden oder im Weltall operieren, gemischte Teams aus Menschen und Robotern, die gemeinsam produzieren, aber auch im Bereich der Pflege kooperieren – in all diesen Bereichen existieren prototypische Systeme, die intensiv weiter entwickelt werden, deren Vor-Serienreife in den kommenden Jahren erwartet wird. Und wir sollten der Forschung die Daumen drücken, damit Maschinen zur Verfügung stehen, die uns helfen, die Grundlagen unserer Wohlstandsgesellschaft aufrechtzuerhalten.
Wie weit reicht die Kompetenz von Maschinen?
Deshalb ist es richtig, dass wir uns Gedanken machen über die neuen Chancen. Und es ist wichtig, dass wir die Zukunft ohne Schnappatmung betrachten. Bei den aktuellen Erfolgen muss die Frage also sein: Was übersehen wir diesmal? Klopft die technologisch bedingte Massenarbeitslosigkeit an die Tür, die John Maynard Keynes bereits 1930 für seine Enkel prophezeite?
Robotische Systeme werden leistungsfähiger, aber die Fabriken sind nicht menschenleer. Spurhalteassistenten automatisieren Stop&Go im Stau, im Rückspiegel wird man vor überholenden Autos gewarnt, aber der Fahrer bleibt am Lenkrad – nicht, weil er das leidenschaftlich will, sondern weil die Systeme noch nicht mit der tatsächlichen Komplexität der Fahrsituation umgehen können. Spracherkennung ist mittlerweile alltagstauglich, wenn es um das Diktieren geht. Die Erkennungsgenauigkeit liegt bei 99 Prozent. Die Einsatzszenarien sind noch begrenzt, allerdings für das Routing in Call Centern essentiell. Die generelle Frage ist natürlich, ob man seine Gedanken überhaupt diktieren möchte – abgesehen von einem Arzt, der eine Diagnose schreibt, einem Anwalt der ein juristisches Anschreiben formuliert. In den meisten Fällen ist das Schreiben nicht das Problem, sondern das Denken, der Findungsprozess und das Abwägen des treffenden Ausdrucks. Für die schnelle Messenger-Nachricht hat sich das Diktieren bei vielen WhatsApp-Nutzern durchgesetzt.
Eine maschinelle Superintelligenz ist nicht in Sicht
Maschinelle Übersetzung ist erfolgreich, um sich z.B. bei einer koreanischen Webseite einen ersten Überblick zu verschaffen, aber einen Vertrag würde man erst unterschreiben, wenn ein fachlich kundiger Übersetzer für die Inhaltsqualität bürgt. Die automatische Textproduktion, der Datenjournalismus, ist sinnvoll, wenn aus Tabellen kurze Artikel erzeugt werden sollen. Das kann die Maschine und es entlastet den Menschen. Aber dabei werden keine originellen Gedanken entwickelt oder aktuelle Ereignisse in gesellschaftliche Zusammenhänge gebracht. Der Computer als Gesprächspartner ist noch weit entfernt. Im Auto kann man immer noch keinen Wissensdialog über die aktuelle Nachrichtenlage führen. Das wird kommen, ist aber noch nicht da. Nur wird es auch dann erstmal nicht wesentlich darüber hinausgehen. Sprachdialogsysteme, bei denen es eben nicht nur um die Erkennung der gesprochenen Wörter geht, sondern auch um das maschinelle Verstehen des Gemeinten und Gewünschten, sind in den meisten Fällen nur sehr eingeschränkt leistungsfähig und oftmals keine wirkliche Hilfe.
Bildersuche und Gesichtserkennung werden besser und sind schon in viele Amateurprogramme für Fotoverwaltung integriert, aber die Treffergenauigkeit ist noch nicht befriedigend. Erfolge gibt es bei der Erkennung des Sentiments, der Gemütslage, bei der korrekten automatischen Zuordnung von Schlagwörtern zu Bildern. Das ist hilfreich, um Fotos in großen Beständen leichter finden zu können. Bildverstehende Systeme, die also die dargestellten Zusammenhänge, die Geschichte begreifen und die Handlung fortschreiben können, sind noch in den Kinderschuhen.
Oder anders: Eine maschinelle Superintelligenz ist nicht in Sicht, so sehr sich die selbsternannten Propheten auch überbieten. Das erschließt sich dem Holisten leichter als dem Ignoranten. Wenn man die Intelligenz eines Menschen nicht als monolithisches Vermögen sieht, kann man einzelne Dimensionen unterscheiden: senso–motorisch (die Kunst der Bewegung), kognitiv (die Kunst des Wissens), emotional (die Kunst des Mitfühlens), sozial (die Kunst des Miteinanders). Betrachtet man Gruppen, tritt als Chance zusätzlich noch die kollektive Intelligenz (die Kunst des Zusammen) dazu. Einzelne Menschen die ihre individuellen Begabungen einbringen und ihre individuellen Vorbehalte oder Vorteile zurückstellen – nicht vergessen oder negieren, sondern in den Hintergrund verbannen, damit man gemeinsam als Gruppe oder Team ein Ziel erreicht, dass man als Einzelner ganz bestimmt verfehlt hätte. Wenn es um die Fähigkeiten geht, die für uns primär mit Wissen zu tun haben – Kenntnis von Daten und Fakten – können Menschen in diesem imaginären Wettbewerb nicht mithalten. Wenn es um die Kunst des mitfühlenden Miteinanders geht, sind Menschen unschlagbar. Menschen wissen um die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen, Maschinen simulieren.
Die Frage nach dem gesunden Menschenverstand
Warum sind wir dennoch immer so existentiell beeindruckt, wenn Maschinen Sprache verarbeiten und man mit einiger Übung auf einer Party einen amüsanten Dialog mit einem digitalen Assistenten präsentieren kann? Wenn Maschinen die Weltmeister in Schach oder Go besiegen?
Problematisch ist der Analogieschluss. Leichtfertig gehen wir davon aus, dass Maschinen, die etwas beherrschen, das für uns komplex ist – wie Schach oder Go –, auch das können, das für uns mit keiner merklichen Anstrengung verbunden ist – wie die Gefühlslage unseres Gegenübers zu verstehen. Dabei ist das Verhältnis umgekehrt proportional. Die wirkliche Komplexität liegt eben nicht in den Aufgaben, für deren Beherrschung Menschen viel Energie aufbringen, sich konzentrieren oder lange trainieren, studieren müssen, sondern im gesunden Menschenverstand, in dem alltäglichen Allerlei und dem Nebeneinander von Tätigkeiten, die der Mensch sinnlich und emphatisch versteht und aktiv erlebt. Die nicht hinterfragten menschlichen Alltagsleistungen, die Konventionen des Miteinanders – der gesunde Menschenverstand – überfordern die schnellsten Rechner, die größten Rechenzentren und die besten Algorithmen.
„Innovation verändert Produktion – bei zunehmender emotionaler Vollbeschäftigung des Menschen!“
Die Kirschen in Nachbars Garten waren schon immer saftiger. Das Eigene – im Kontext Besitz und Befähigung – scheint oft weniger wertvoll als das Andere. Wenn man an Keynes denkt: Innovation verändert Produktion – bei zunehmender emotionaler Vollbeschäftigung des Menschen! Wir haben zu viel Hochachtung vor maschinellen Leistungen und zu wenig Wertschätzung für das Menschliche, für unsere Fähigkeiten und Begabungen.
Reinhard Karger leitet seit 2000 die Unternehmenskommunikation des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, DFKI; seit 2011 ist er Unternehmenssprecher des DFKI. Zudem ist er Mitglied des Bundesverbands deutscher Pressesprecher (BdP) und seit Mai 2014 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Information und Wissen e.V. (DGI).
_____________________________
Reinhard Karger ist Speaker und Moderator der Podiumsdiskussion
SMART INNOVATION
Mittwoch, 5. Oktober 2016, 15.00 – 16.00 Uhr
Forum Organisation & Verwaltung
http://www.dokmagazin.de/innovationtalk